Die Nato-Staaten haben sich auf ihrem Gipfel am Montag zum ersten Mal klar zu China positioniert, das in der Abschlusserklärung als systemische Herausforderung beschrieben wird. Das bedeutet aber laut Generalsekretär Jens Stoltenberg nicht, dass China Gegner oder Feind sei. Kommentatoren beleuchten, wie Peking selbst auf die Sache blickt.
Europa zeigen, was man zu bieten hat
Wie Peking auf die Positionierungen des Westens reagieren sollte, erklärt die KP-treue Staatszeitung Global Times:
„Auch wenn die Rhetorik gegenüber China in der Nato-Gipfelerklärung etwas weniger hart zu sein scheint als die gegenüber Russland – China muss die Verschwörungen der USA durchschauen. Wir müssen uns dem Ausbau der chinesisch-europäischen Zusammenarbeit verpflichtet fühlen. Wir müssen verdeutlichen, dass China keine Bedrohung für Europa darstellt. Und wir müssen Europa, das derzeit seine Eigenständigkeit stärken will, den Wert von China als strategischem Partner vermitteln. Die Zukunft Europas liegt nicht in einer Unterordnung unter die USA, in der Hoffnung, eine kleine Scheibe vom Kuchen der Hegemonie Washingtons abzukommen. Europa sollte in der Lage sein, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Nicht nur China.“
China will nur Geschäfte, der Westen will mehr
Die G7 haben sich auf eine Art Marshall-Plan für ärmere und aufstrebende Länder geeinigt – das Projekt Build Back Better World – und wollen 40 Billionen Dollar in Infrastrukturprojekte investieren. Dass ihr Ansatz dabei ganz anders ist als der Pekings, bemerkt Duma:
„Es ist unwahrscheinlich, dass diese Initiative selbstlos umgesetzt wird. Die Erfahrung zeigt, dass der Westen Hilfe in der Regel an politische Verpflichtungen knüpft, zum Beispiel zur Durchsetzung der liberalen Demokratie oder der Rechte sexueller Minderheiten. … China hingegen stellt Kredite und andere Hilfen bereit, ohne sie an politische Forderungen zu knüpfen oder darauf zu bestehen, dass lokale linke oder kommunistische Parteien in die Regierung eintreten. Peking will lediglich, dass den finanziellen oder wirtschaftlichen Verpflichtungen nachgekommen wird.“
Kampf um eine Gesellschaftsidee
Biden wird in Sachen China-Politik noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, analysiert Diário de Notícias:
„Joe Biden will ein Argument für die globale Bipolarisierung liefern, das über den wirtschaftlichen Wettbewerb hinausgeht. Und er hat recht. Was China vom Westen unterscheidet, ist nicht das Wirtschaftswachstum oder der Staatskapitalismus. Es ist die Gesellschaftsidee. Es ist die Ideologie. … Für die amerikanische Wirtschaft bedeutet die Abkehr von China ein ernstes Problem: den Verlust eines äußerst wichtigen Marktes. Aber wenn die USA gewinnen und ihre Konkurrenz ausschalten, könnte es sich lohnen. Es wird sich lohnen müssen. … Für Teile Europas scheint die Frage in eine andere Richtung zu gehen. Den chinesischen Markt zu verlieren, ohne irgendetwas dafür zu gewinnen, weder wirtschaftlich noch machtpolitisch, scheint nur eine Niederlage zu sein.“
Auch China hat eine Vision
Ihre Weltsicht mit der Chinas abzugleichen empfiehlt China-Kenner Simone Pieranni in Il Manifesto den Führern von G7 und Nato:
„China sieht sich selbst als eine wohlwollende Macht, die sich paternalistisch an die Spitze einer neuen Ordnung stellt. … Und nicht mehr als ein Land, das in die von US-Amerikanern und Westen gewollte Ordnung ‘integriert’ werden muss, weil es heute Schöpfer einer Ordnung sein kann, die nicht auf universellen Werten basiert, sondern auf einer Zusammenarbeit, die Wirtschaftswachstum und das Wohlergehen aller Länder anstrebt. … Diese Vision mag naiv oder sogar verschlagen erscheinen und wirft natürlich viele Fragen und Dilemmata auf. Aber im Moment setzt der chinesische Vorschlag – und das ist seine Stärke – kein ‘Modell’ voraus, das man im Guten wie im Schlechten exportieren könnte. Die Vision kann natürlich abgelehnt, aber nicht ignoriert oder außer Acht gelassen werden.“
Im eigenen Haus aufräumen
Dass die besorgniserregende Entwicklung in mehreren Mitgliedsländern die Nato schwächt, fürchtet Politiken:
„Die Nato kann sich nicht als glaubwürdige Verteidigerin der Menschenrechte und der demokratischen Werte geben, während gleichzeitig drei Mitgliedsländer, Türkei, Polen und Ungarn, diese mit Füßen treten. Die Nato muss im eigenen Haus aufräumen. Das ist im Interesse des Bündnisses und dessen Verantwortung.“
Dualer Kalter Krieg
Nun hat die Nato wieder zwei Feinde, analysiert La Stampa:
„Dialektische Balanceakte mildern den Ton des Abschlusskommuniqués ein wenig, doch ändern sie nichts an der Substanz: Russland und China sind ‘systemische Rivalen’. … Um den beiden Autokratien gegenüberzutreten – eine Definition, die auch auf dem G7-Gipfel in Cornwall, der als Vorspeise zum Nato-Gipfel fungierte, durchgesetzt wurde -, wird ein duales Schema erforderlich sein. Es legt die ‘Doktrin des Krieges, der an zwei Fronten gleichzeitig geführt wird’ – die amerikanische Säule des Kalten Krieges – neu auf und passt sie an die Zeit und die zur Verfügung stehenden Mittel an.“
Europa sollte Anti-Peking-Kurs nicht mittragen
China ist für Europa einfach zu wichtig, meint Les Echos:
„Die kommerzielle und energiepolitische Abhängigkeit sowohl von China als auch von Moskau ist zu groß, um sich blind den amerikanischen Interessen zu beugen – umso weniger, seit Peking im vergangenen Jahr noch vor Washington zum führenden Handelspartner aufgestiegen ist. China ist außerdem unverzichtbar im Kampf gegen den Klimawandel. Die europäische Union hat aufgrund der Größe ihres Marktes – 450 Millionen Einwohner – die Macht, China ein ausgewogeneres Machtgleichgewicht aufzuzwingen. Das ist so schon schwierig genug. Da darf man diese neue Mauer, die Washington zwischen uns und Peking errichten will, ruhig ablehnen.“
Die Welt ist nicht mehr unipolar
Eine westliche Allianz gegen China ist anachronistisch, ergänzt Público:
„[Bidens] Strategie scheint klüger als die seiner Vorgänger. Aber der Grundgedanke bleibt derselbe: die Vorherrschaft der USA in der Welt aufrechtzuerhalten, die nicht mehr unipolar ist. Das ist ein veralteter Ansatz, der mit den Zielen der EU kollidiert, eine eigene unabhängige Außenpolitik aufzubauen. … Den G7 schwebt ein Geflecht von grünen Handelsbeziehungen vor, das mit der von China anvisierten Neuen Seidenstraße konkurrieren soll. Aber es handelt sich um eine Initiative, der – im Gegensatz zur chinesischen – noch die Ausarbeitung der Details sowie Finanzquellen und eine strategische Ausrichtung fehlen. Viele Bündnispartner Washingtons wollen keinen Plan unterstützen, der sich offen gegen China richtet.“
Geografischer Schwerpunkt verschiebt sich
Das wichtigste Signal, das von diesem Gipfel ausgeht, ist die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs über den nordatlantischen Raum hinaus, analysiert Zeit Online:
„Die Nato blickt auf die indopazifische Region und will die Zusammenarbeit mit ihren ‘Partnern’ dort – mit Japan, Südkorea, Australien oder Neuseeland – intensivieren. … Die meisten europäischen Nato-Staaten dagegen sehen sich nach wie vor eher durch Russland bedroht, die Herausforderung durch China beunruhigt sie weniger. Der Gipfel in Brüssel dürfte ihnen klargemacht haben, dass sich das Zentrum der amerikanischen Außenpolitik endgültig zum Indopazifik verschiebt. … [W]eltpolitisch rückt das traditionelle Nato-Gebiet, von Washington aus betrachtet, mehr und mehr an die Peripherie.“
Westen hat seinen Vorsprung eingebüßt
WPolityce.pl will die Sicherheitspolitik ganz oben auf der politischen Agenda sehen:
„Die aktuelle Situation der Nato-Staaten ist so viel komplizierter als in der Vergangenheit. Denn der technologische Vorsprung, der bisher ein Vorteil des kollektiven Westens gegenüber potenziellen Feinden war, gehört der Vergangenheit an. Die Forschung an neuen Waffentypen, der Einsatz künstlicher Intelligenz für militärische Zwecke oder allgemeiner die bevorstehenden technologischen Durchbrüche im Zusammenhang mit dem Internet der Dinge berauben den Westen seines Vorteils. Und das bedeutet, dass die Grundannahmen der Sicherheitspolitik revidiert werden müssen.“